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Publik-Forum, 16/2002
"Hundert Prozesse laufen allein gegen mich"
 
 

Die Türkei nähert sich Europa - aber nicht den Menschenrechten.
Fragen an die türkisch-kurdische Anwältin Eren Keskin

Von Ulrike Schnellbach

Publik-Forum: Frau Keskin, wie schätzen Sie die Reformen ein, die das türkische Parlament verabschiedet hat: Abschaffung der Todesstrafe und die Zulassung der kurdischen Sprache im Unterricht und in der Öffentlichkeit?

Eren Keskin: Natürlich sind die Beschlüsse erst einmal positiv. Allerdings sehen wir vom türkischen Menschenrechtsverein zu viele Hintertürchen. Die Gefahr besteht, dass die Gesetze für die Europäische Union verabschiedet wurden und sich in der Türkei dennoch nicht viel ändert. So soll die Todesstrafe im Kriegsfall immer noch gelten. Auch das Verbot der kurdischen Sprache wird in der Praxis nicht viel verändern, weil andere Gesetze die kurdische Sprache immer noch verbieten - zum Beispiel das Wahlgesetz, das Parteigesetz oder das Vereinsrecht.

Publik-Forum: Kürzlich war in einer deutschen Zeitung zu lesen, dass ein Vater in der Türkei vor Gericht stand, der seiner Tochter einen kurdischen Vornamen gegeben hatte. Dann wurden Studenten verhaftet, die friedlich für Unterricht in der kurdischen Sprache demonstriert hatten. Sind das Ausnahmen, oder sind derlei Anklagen auf der Tagesordnung?

Keskin: Diese Art Anklagen sind an der Tagesordnung. Erst vor kurzem hat eine Gruppe von Studenten einen Antrag auf kurdischen Unterricht gestellt. Sie wurden aus der Universität gegworfen und in Untersuchungshaft genommen: manche gefoltert und ins Gefängnis gebracht. Es gab auch eine Elterninitiative, die beantragt hat, dass ihre Kinder kurdischen Schulunterricht bekommen. Gegen diese Eltern wurde ebenfalls der Prozess eröffnet. Tatsächlich werden auch Eltern angeklagt, die ihren Kindern kurdische Namen gegeben haben. Das alles zeigt, dass die türkische Regierung sich nicht wirklich bemüht, in der Kurdenfrage voranzukommen.

Publik-Forum: Wie könnten Deutschland und die EU helfen, dass die Menschenrechte in der Türkei geachtet werden?

Keskin: Die Türkei hat ein internationales Abkommen unterzeichnet, das eine Bestimmung über den Rechtsstaat enthält, aber die Türkei ist kein Rechtsstaat. Die europäischen Staaten könnten darauf bestehen, dass diese Bestimmung umgesetzt wird. Doch die EU-Staaten verfolgen vor allem ihre eigenen Interessen. Dieselben Länder, die von der Türkei Verbesserungen der Menschenrechtssituation verlangen, machen gleichzeitig Geschäfte mit der Türkei, indem sie ihr zum Beispiel Waffen verkaufen. Diese wirtschaftlichen Beziehungen sind den Staaten wichtiger als die Menschenrechte. Deshalb glaube ich nicht, dass Veränderungen in der Türkei von den europäischen Staaten ausgehen, höchstens von den demokratischen Nichtregierungsorganisationen.

Puplik-Forum: Sie mussten sich jüngst wieder vor Gericht verantworten, weil Sie mit anderen türkischen Menschenrechtsaktivisten an einem Treffen mit der deutschen Justizministerin Herta Däubler-Gmelin teilgenommen haben. Ist das in der Türkei strafbar?

Keskin: Die deutsche Justizministerin traf sich in der Türkei mit Nichtregierungsorganisationen. Ich habe ihr die politische Situation in der Türkei geschildert und gesagt, dass hier keine zivile Politik gemacht werden kann, weil das Militär eine beherrschende Stellung hat. Ich habe vor allem über die Menschenrechtsorganisation gesprochen. Obwohl bei dem Treffen keine Presse zugelassen war, wurde in einer Zeitung darüber berichtet mit der Schlagzeile: "Türkisches Militär gegenüber Deutschland angeklagt." Ich weiß nicht, wie sie zu der Nachricht kamen, aber auf Grund dieses Artikels wurde gegen mich ein Prozess eröffnet, und ich bin kurz davor, verurteilt zu werden.

Publik-Forum: Das ist nicht die erste Anklage gegen Sie.

Keskin: Ich bin unzählige Male in Untersuchungshaft gewesen. 1955 war ich sechs Monate im Gefängnis. Die Anklage damals lautete auf sepratistische Propaganda, denn ich hätte das Wort "Kurdistan" benutzt. Derzeit laufen gegen mich mehr als hundert Prozesse, und ich rechne jderzeit damit, ins Gefängnis zu müssen.

Publik-Forum: Haben Sie Informationen, dass aus Deutschland abgeschobene kurdische Flüchtlinge in der Türkei gefoltert werden?

Keskin: Ich kann nicht behaupten, dass alle aus Deutschland Abgeschobenen hier gefoltert werden. Aber es gibt welche, die verhaftet und gefoltert wurden. Wenn eine Person in der Türkei gesucht wird oder auch nur ein Familienmitglied - besonders, wenn es sich um jemanden handelt, der sich für die Kurden eingesetzt hat -, dann ist das allein ein Grund, ihn in Untersuchungshaft zu nehmen und zu foltern.

Publik-Forum: Sie verteidigen seit Jahren Kurden, die wegen "Separatismus" angeklagt sind. Wie viele Prozesse haben Sie gewonnen?

Keskin: Die Prozesse, die ich führe, sind politische Prozesse. Natürlich ist die Zahl der verlorenen Prozesse viel höher als die der gewonnenen. Denn schon sich zu äußern kann eine Straftat sein, wenn man in Kurdenangelegenheiten eine andere Meinung vertritt als die Regierung. Und sich zu organisieren ist auch eine Straftat.

Publik-Forum: Die kurdische Arbeiterpartei PKK hat ihren bewaffneten Kampf für beendet erklärt und sich zu einer politischen Partei umformiert. Wie ernst ist diese Wandlung?

Keskin: Die PKK hat schon lange den bewaffneten Kampf aufgegeben, das sehe ich als großen Gewinn. Denn das kurdische Volk ist vom Krieg erschöpft, auch das türkische Volk hat darunter sehr gelitten. Die Türkei hat viele Soldaten, die Kurden haben viele Familienmitglieder verloren, sei es durch den Krieg oder durch Morde.. Der Krieg war ein Teufelskreis, und beide Völker brauchen den Frieden sehr notwendig.

Publik-Forum: Wie reagiert der Staat auf das Friedensangebot der PKK?

Keskin: Wir haben bis jetzt keine positive Reaktion des Staates auf den Waffenstillstand gesehen. Die Haltung der Regierung in der Kurdenpolitik ist genau wie zuvor.

Publik-Forum: Sie vertreten Frauen, die in Untersuchungshaft sexuell belästigt und vergewaltigt wurden. Wie sind da Ihre Erfolge?

Keskin: In der Türkei wird in Verhören systematisch gefoltert. Sexuelle Folter öffentlich zu machen ist am schwierigsten. Den die Frauen haben große Schwierigkeiten, darüber zu berichten. Sie haben Angst, sie schämen sich. Zudem ist es sehr schwer, sexuelle Folter zu beweisen. Wenn die vergewaltigte Frau Jungfrau war, muss sie innerhalb von zehn Tagen nach der Vergewaltigung ein ärztliches Attest vorlegen. Wenn sie keine Jungfrau war, braucht sie das Attest innerhalb von 48 Stunden. Aber genau so lange werden die Frauen in Untersuchungshaft gehalten. Wenn die Frist verstrichen ist, gibt es nur noch die Möglichkeit eine psychologischen Gutachtens, und es gibt in der Türkei nur wenige Stellen, die dafür qualifiziert sind. Dazu kommt, dass jedes neutrale ärztliche Attest von einem gerichtsmedizinischen Institut, also einer staatlichen Stelle, bestätigt werden muss. Deshalb ist dies ein sehr mühseliger und schwieriger Weg. Trotzdem wird er sehr oft beschritten. Seit fünf Jahren arbeiten wir in einem Projekt für vergewaltigte Frauen, und 156 Frauen haben sich bislang an uns gewandt. 14 Prozesse laufen derzeit in der Türkei, 27 Akten liegen beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Dort haben wir einen Prozess gewonnen, in der Türkei haben wir noch keinen gewonnen. Aber es geht uns auch darum, dass die Frauen das Bewusstsein für ihr Recht entwickeln. Da sind wir einen großen Schritt vorangekommen.

Publik-Forum: Sind Sie selbst in der Haft vergewaltigt oder gefoltert worden?

Keskin: Ich habe keine Vergewaltigung erlebt, aber sexuelle Belästigungen und verbale Attacken. Ich bin nicht systematisch gefoltert worden, aber bedroht. Ich war psychologischer Gewalt ausgesetzt.

Publik-Forum: Denken Sie manchmal daran aufzugeben?

Keskin: Ich liebe meine Arbeit für die Menschenrechte, sie ist mein Leben. Wenn man sich in der Türkei so eine Arbeit vornimmt, dann nimmt man die Gefahren und Bedrohungen in Kauf. Am Anfang hatte ich Angst, jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Ich denke nicht daran aufzuhören.

Publik-Forum: Welche Auswirkungen hat die derzeitige Regierungskrise? Setzen Sie Hoffnungen in die Neuwahlen im November?

Keskin: Nein. Solange das Militär so viel Macht in der Politik hat, wird die Regierungskrise weitergehen. Und so lange glaube ich auch nicht, dass irgendeine Wahl irgendeine Veränderung bringen wird..

Publik-Forum: Wie kann sich dann überhaupt etwas verändern?

Keskin: Das hängt sehr stark von der inneren Dynamik ab. Wenn die Forderung aus der Bevölkerung nach Demokratisierung und nach ziviler Regierung stärker wird, dann gibt es sicherlich eine Veränderung.

Publik-Forum: Ist ein Interview wie dieses, in dem Sie den türkischen Staat deutlich kritisieren, für Sie gefährlich?

Keskin: Natürlich. In der Türkei ist jeder, der sich systemkritisch äußert, gefährdet.

Übersetzerin: Gülsen Özkan