Am 20.9.02 begann mit einstündiger Verspätung das Verfahren gegen
die Rechtsanwältin Eren Keskin.
Dieses Mal war der Anlaß für die Anklage ein Verhalten im Ausland, nämlich angebliche
Äußerungen bei einer Veranstaltung, die unter dem Titel "Frauenrechte sind Menschenrechte"
von TÜDAV und der alevitischen Frauenvereinigung aus Anlaß des 8.März 2002 in Köln
ausgerichtet wurde.
Mit ihrem Redebeitrag habe sie Art. 312 Abs. 2 des türkischen Strafgesetzbuchs verletzt,
nämlich öffentlich unter Hinweis auf Unterschiede der Klasse, Rasse und Religion, Konfession
oder Region zu Haß und Feindschaft aufgestachelt und durch die Bezeichnung eines Teils der
Türkischen Republik, welche ein Einheitsstaat ist, als Kurdistan und durch die Darstellung
der kurdischen Bevölkerung als unschuldig und unterdrückt, Ausführungen gemacht, die die
Bevölkerung der anderen Regionen aufstachele. Bereits zuvor war aufgrund ihres Redebeitrags
auf dieser Veranstaltung, mit dem sie über die Projektarbeit für Frauen und Mädchen, die
durch Sicherheitskräfte in der Türkei vergewaltigt oder auf andere Art sexuell mißhandelt
wurden, berichtete, eine durch die Tageszeitung Hürriyet und insbesondere durch den Journalisten
Fatih Altayli eine Hetzkampagne in der Presse geführt worden, die zu Proteststürmen im In-
und Ausland geführt hatte.
Frau Necla Arat, Professorin und Leiterin des Frauenforschungsinstituts der Istanbuler
Universität, war ebenfalls Podiumsteilnehmerin auf der Veranstaltung in Köln und beschimpfte
Eren Keskin aus kemalistischer Sicht schon während der Veranstaltung als eine Art
Nestbeschmutzerin. Sie war es, die in entstellender Weise direkt dem Großen Generalstab des
Militärs vom Redebeitrag Eren Keskins berichtete und hiernach stolz verkündete, der Große
Generalstab habe sich bei ihr wegen ihrer "patriotischen" Aufmerksamkeit bedankt.
Necla Arat selber stellte Strafantrag wegen Verletzung ihres Nationalgefühls, das Militär
stellte ebenfalls Strafantrag. Unabhängig davon ist Art. 312 Türkisches Strafgesetzbuch
als Offizialdelikt allerdings auch ohne Strafantrag verfolgbar.
Der Vorsitzende Richter des Dreierkollegiums übernahm zu Beginn gleich den Part der
Staatsanwaltschaft, um auch keinen Zweifel aufkommen zu lassen an der Einheit von Gericht
und Anklagebehörde und trug die Anklage zusammenfassend vor. Rechtsanwältin Keskin hatte
sodann - als Angeklagte stehend - und in gehörigem Abstand zu ihren drei VerteidigerInnen
das Wort. Sie bestritt, die ihr in der Anklage vorgeworfenen Äußerungen so wie dort
wiedergegeben getan zu haben.
Auf der Veranstaltung habe sie von der Arbeit des Frauenrechtsbüros gegen sexuelle Folter
berichtet, in dem sie mitarbeitet und an das sich bereits 157 Frauen gewandt hätten, die Opfer
von sexueller Gewalt durch Polizei, Gendarmerie oder Militär geworden seien; in etlichen Fällen
sei Strafanzeige erstattet worden. Dabei richteten sich 4/5 der Verfahren gegen Polizeiangehörige
und der Rest gegen Militär und Gendarmerie, was jedoch nur daran liege, daß die betroffenen
Frauen größere Angst hätten, Militärangehörige anzuzeigen, da das Militär sowohl politisch als
auch wirtschaftlich eine unantastbare Machtposition inne habe und davon auszugehen sei, daß Militärs
in weit größerem Umfang an diesen Verbrechen beteiligt seien, als es bisher dokumentiert werden
konnte. Dies seien die Erfahrungen jahrelanger Arbeit auf diesem Gebiet.
Rechtsanwältin Keskin erklärte, sie habe weiter ausgeführt, daß gegen Frauen weltweit
Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe in kriegerischen Situationen zum Instrumentarium
der Sicherheitskräfte gehörten. In der Türkei komme als Besonderheit die Konzentration von
Kapital in den Händen des Militärs hinzu. Das Militär habe eigene Versicherungsgesellschaften,
Unternehmen und Banken aufgebaut oder sei an diesen beteiligt. Hierdurch habe es eine
überdurchschnittliche Machtposition sowohl als bewaffnete, als auch als ökonomisch und politisch
bestimmende Macht inne. Zu diesen Aussagen stehe sie, sie habe es jedoch gar nicht nötig und es
würde auch nicht ihrer Art entsprechen, sich auf eine Art zu äußern, wie sie ihr in der Anklage
vorgeworfen wird. Eren Keskin betonte, daß die Zitate in den türkischen Zeitungen, sie habe von
der türkischen Armee als einer "Vergewaltigerarmee" gesprochen, unrichtig seien.
Richtig sei, daß sie den Begriff Kurdistan bei der Veranstaltung gebraucht habe, jedoch nicht,
um damit einen eigenen Staat zu bezeichnen, sondern ein Gebiet in der Türkei, das auch schon von
Mustafa Kemal, dem Gründer der Republik, in seinen damaligen Schreiben an die östlichen
Gebietsführer für diese Region gebraucht worden sei. Sie befürworte ein einverständliches
Zusammenleben von KurdInnen und TürkInnen.
Für alle ihre Angaben benannte sie eine Zeugin, die im Publikum anwesend gewesen war.
Sodann überreichte die Verteidigung einen dreiseitigen Bericht mit einer Statistik der beim
"Rechtsbüro gegen sexuelle Folter" geführten Fälle und kündigte an, die gegen türkische
Sicherheitskräfte geführten Strafverfahren wegen Folter und Vergewaltigung ebenfalls
dokumentiert bei Gericht einzureichen.
Der Vorsitzende Richter äußerte seine Skepsis gegenüber diesem Büro, da es über keinen
offiziellen Rechtsstatus verfüge. Schließlich erteilte er einen rechtlichen Hinweis, daß
auch eine Verurteilung wegen Art. 8 Anti-Terror-Gesetz erfolgen könne. Dabei handelt es sich
um den Vorwurf des Separatismus, der nach der bisherigen Rechtsprechung bereits durch den
Gebrauch des Wortes Kurdistan erfüllt sein kann. Der Strafrahmen beträgt ein bis drei Jahre
Haft.
Gegen die geladene und unentschuldigt nicht erschienene Hauptbelastungszeugin Necla Arat
wurden keine Ordnungsmittel verhängt.
Die Verteidigung wies darauf hin, daß wegen desselben Sachverhalts bereits eine
Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Bagcilar wegen Beleidigung des Militärs vor
einem normalen Strafgericht eingereicht wurde (Anklageschrift vom 30.7.2002, Az.:
Hazirlik 2002/4579). Der erste Hauptverhandlungstermin in dieser Sache ist für den
6.11.2002 um 10 Uhr anberaumt. Nach dem Gesetz müssen beide Verfahren miteinander
verbunden werden, was dann geschieht, wenn in einem Verfahren auf das Parallelverfahren
hingewiesen wird. Es ist daher davon auszugehen, daß diese beiden Verfahren zu einem
Verfahren wegen der gleichen Sache verbunden werden. Generell kann es in der Türkei zu
zwei Verurteilungen wegen desselben Sachverhalts (durch ein Strafgericht und durch das
Staatssicherheitsgericht) kommen, wenn nicht in einem Verfahren auf die Anhängigkeit des
anderen Verfahrens aufmerksam gemacht wird.
Am Ende der Sitzung erging folgender Beschluß:
1. Die Staatsanwaltschaft soll ermitteln, ob es eine Videoaufnahme von der Veranstaltung
gibt und falls ja, diese beschaffen.
2. Die als Anklagegrundlage dienende, existierende Videocassette von einer nach der
Veranstaltung durchgeführten Pressekonferenz wird beigezogen. (Zu diesem Zeitpunkt befand
sich Eren Keskin bereits in der Türkei)
3. Die von der Verteidigung benannte Entlastungszeugin soll gehört werden.
4. Die Parallelanklage soll beigezogen werden.
5. Die Verhandlung wird am 27.11.02 fort gesetzt.
Die Verhandlung wurde von ca. 70 ZuschauerInnen und zahlreichen Presseangehörigen
aufmerksam verfolgt. Das deutsche Konsulat, amnesty international/ London sowie zwei
Vertreter der Londoner Anwaltskammer und gleichzeitig Mitglieder der kurdischen
Menschenrechtsvereinigung KHRP, sowie der Republikanische AnwältInnen Verein, die
Berliner Anwaltskammer und das FrauenRechtsBüro gegen sexuelle Folter e.V. aus Berlin
beobachteten den Prozeß.
Die nationale Anwaltskammer in Ankara hat inzwischen wegen früherer Verurteilungen
Eren Keskins, wegen derer sie sich 1995 in Haft befand, ein einjähriges Berufsverbot
ausgesprochen, nachdem sich die Istanbuler Anwaltskammer geweigert hatte, eine derartige
Disziplinarmaßnahme zu verhängen. Die schriftliche Zustellung der Entscheidung steht
noch aus. Gegen diese Entscheidung ist die Klage zu den Verwaltungsgerichten möglich.
Im Rahmen der Delegationsreise fand ein Gespräch mit einem Repräsentanten der Istanbuler
Anwaltskammer statt, in dem noch einmal detailliert auf die einzelnen Schritte der möglichen
Disziplinarstrafen gegen Rechtsanwält/innen eingegangen wurde. Entscheidendes Ergebnis ist,
daß sowohl das Justizministerium als auch die dem Justizministerium nahestehende nationale
Kammer in Ankara entgegen den Empfehlungen der regionalen Kammern Anwältinnen und Anwälte mit
Disziplinarstrafen belegen können. Insbesondere für im Menschenrechtsbereich tätige AnwältInnen
stelle das eine permanente Drucksituation dar. Da derartige Disziplinarstrafen zum
existenziellen Ruin führen können, befänden sich Anwält/innen der Menschenrechtsarbeit
im ständigen Konflikt zwischen Aufrichtigkeit und Existenzvernichtung.
Weitere Entwicklungen sind:
Aufgrund der massiven Proteste auch aus dem Ausland wegen der gegen Eren Keskin geführten
Hetzkampagne hat sich auch der Presserat in der Türkei der "Angelegenheit Fatih Altayli"
angenommen. Darüber hinaus ist ein Strafverfahren wegen Verleumdung und Beleidigung gegen
Fatih Altayli durch die Staatsanwaltschaft Sisli/ Istanbul sowie ein Schmerzensgeldverfahren
wegen Beleidigung vor einem Zivilgericht in der Türkei eingeleitet worden.
Auch wenn internationale Proteste gegen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen eines
repressiven Regimes bezüglich ihrer Wirksamkeit immer wieder in Frage zu stellen sind, sind
wir der Ansicht, daß ohne derartige Aufmerksamkeit und Intervention der zivilen
Menschenrechtsaktivist/innen im Ausland die Situation einzelner, mit Repression bedrohter
Menschen, viel bedrohlicher wäre. Wir sollten dieser Art Arbeit also nicht unterschätzen.
Die grundlegende Veränderung eines repressiven Regimes bedarf selbstverständlich insbesondere
der Aktivität einer oppositionellen Basis innerhalb der Bevölkerung dieses Landes selber.
Hier haben wir die Aufgabe, über Zusammenhänge zu berichten, unsere eigenen Regierungen und
deren (außenpolitische) Politik zu hinterfragen und solidarisch mit der menschenrechtlichen
Opposition in Ländern wir der Türkei zu sein.
Daher danken wir auf diesem Wege allen, die sich mit Protestschreiben oder anderweitig
auf unsere Aufrufe hin eingesetzt haben, denn das blieb zumindest nicht ohne einen kleinen
Erfolg. Militaristische und repressive Regime, die ein Interesse an internationalem oder
europäischem (z.T. die Türkei) Ansehen haben, registrieren zumindest dieser Art Protest,
auch wenn die große Weltpolitik hinter für uns verschlossenen Vorhängen stattfindet.
Die nächsten Termine in dieser Sache:
16.10.2002, 14 Uhr, Strafgericht Sisli/ Istanbul: Strafverfahren gegen Fatih Altayli
wegen Beleidigung
23.10.2002, 11.30 Uhr, Zivilgericht Sisli/ Isanbul: Schmerzensgeldverfahren gegen
Fatih Altayli
06.11.2002, 10 Uhr, Strafgericht Bagcilar/ Istanbul: Strafverfahren gegen Eren Keskin
wegen 8.März-Veranstaltung in Köln
27.11.2002, 9 Uhr, DGM (Staatssicherheitsgericht): Fortsetzung des Termins gegen
Eren Keskin wegen 8.März-Veranstaltung in Köln
1.10.2002
Jutta Hermanns, Vorsitzende
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