Gerichtsfarce in Istanbul: Protest gegen sexuelle Folter
wird kriminalisiert
Von Wanda Lass
Heute wird in Istanbul der Prozess gegen 18 Frauen
und einen Mann fortgesetzt, denen »Verunglimpfung
des Staates« vorgeworfen wird. Sie hatten auf
einem Kongress die Praxis der sexuellen Folter auf Polizeistationen
angeprangert und die Bestrafung der Täter gefordert.
Nein zu sexueller Gewalt durch staatliche Sicherheitskräfte«
- lautete der Titel des Kongresses im Juni 2000. Ein
breites Frauenbündnis hatte ihn in Istanbul organisiert,
um auf die Praxis der sexuellen Folter auf Polizeistationen
oder während militärischer Operationen in
den kurdischen Gebieten aufmerksam zu machen. Beklagt
wurden körperliche Durchsuchungen durch männliche
Beamte, Jungfräulichkeitskontrollen und selbst
Vergewaltigungen (auch mit Polizeiknüppeln). »Die
Täter wählen diese Art der Folter, weil sie
damit rechnen, dass die Opfer darüber Stillschweigen
bewahren«, erläutert die Anwältin Eren
Keskin. »Die Ehre einer Frau hat in der Türkei
einen hohen Stellenwert, und nicht immer ist die Familie
damit einverstanden, dass eine Frau ihre Vergewaltigung
öffentlich macht, abgesehen von den Repressionen,
die dies mit sich bringt.«
Der Kongress versuchte dieses Tabu zu brechen, um betroffene
Frauen zu ermutigen und die Dimension der Verbrechen
aufzuzeigen. So berichtete Rechtsanwältin Fatma
Karakas von systematischen Vergewaltigungen bei Razzien
und Hausdurchsuchungen in kurdischen Dörfern. Das
Militär begreife dieses Vorgehen als Teil seiner
Kriegsstrategie gegen die kurdische Bevölkerung.
Andere Kongressteilnehmerinnen sprachen von sexueller
Misshandlung oder Vergewaltigung durch Polizisten und
forderten deren Bestrafung. Ein Vater prangerte das
Verbrechen an seiner Tochter an.
Obwohl der Kongress offiziell genehmigt worden war,
müssen sich Redner und Rednerinnen ebenso wie die
Organisatorinnen seit fast zwei Jahren wegen »Verunglimpfung
und Verleumdung des Staates und seiner Organe«
vor dem Gericht in Istanbul verantworten. Ihnen drohen
Haftstrafen bis zu sechs Jahren.
Der Prozess gegen die 19 Angeklagten zeichnet sich
in erster Linie durch Absurditäten während
der jeweils etwa 30-minütigen Verhandlungen aus.
Am 21. März 2001 beispielsweise wurde Fatma Pollatas
zur Kongressrednerin erklärt, obwohl sie eine zwanzigjährige
Haftstrafe absitzt und zum fraglichen Zeitpunkt schon
ein Jahr lang inhaftiert war. Daraufhin ordnete das
Gericht die Prüfung des Sachverhalts an. Bis heute
waren die Ermittlungsbehörden nicht in der Lage
oder willens zu klären, ob Frau Pollatas aus dem
Gefängnis fliehen und am Kongress teilnehmen konnte
oder nicht.
Auch den 15. Mai 2002, den fünften Verhandlungstag,
hätte man sich sparen können: Verlesen wurde
der Schriftverkehr zwischen Staatsanwaltschaft, Polizeipräsidium
und dem Gericht über den Verbleib einer Videokassette.
Das bewusste Video über den Kongress, das vom Gericht
von Anfang an als Beweismittel herangezogen wird, ist
und bleibt verschwunden.
Der heutige Prozesstermin dürfte sich wenig von
den bisherigen unterscheiden: Die Verhandlung wird nach
kurzer Zeit um weitere drei Monate vertagt werden.
Der Grund für die Verzögerungstaktik liegt
auf der Hand: Der Prozess wird nicht auf der juristischen,
sondern auf der politischen Ebene entschieden, und die
ist zur Zeit unsicher. Denn wenn die Angeklagten freigesprochen
würden, könnten sie den Vorwurf der sexueller
Folter durch Polizei- und Militärangehörige
ungestraft weiterverbreiten. Die Forderung nach Bestrafung
der »Ordnungshüter« wäre folgerichtig
- aber nicht im Sinne der türkischen Regierung.
Andererseits wäre eine Verurteilung der 19 Angeklagten
ein Minuspunkt auf dem Bewerbungszeugnis für die
Europäische Union. Nach Einschätzung der EU-Kommission
erfüllt die Türkei trotz jüngster Reformen
ohnehin nicht die Kriterien für die Aufnahme von
Beitrittsgesprächen nicht. Es gebe im politischen
System der Türkei noch »Grauzonen«,
beispielsweise hinsichtlich der Rolle der Armee, ließ
ein EU-Beamter wissen.
Derweil überzieht die türkische Regierung
Unterstützer von Vergewaltigungsopfern weiterhin
mit Prozessen, um sie einzuschüchtern. Ärztinnen
des Behandlungszentrums der Menschenrechtsstiftung werden
der Unterstützung einer »kriminellen Organisation«
beschuldigt, weil sie misshandelten Frauen Atteste ausgestellt
haben. Journalisten, die Betroffene zitieren, sehen
sich mit Klagen wegen »Diffamierung des Militärs«
konfrontiert. Und auch die Rechtsanwältinnen der
19
Angeklagten werden traktiert. Allen voran Eren Keskin,
die für ihre Arbeit wahlweise der »Verunglimpfung«
oder der »Aufstachelung der Bevölkerung zu
Hass und Feindschaft« angeklagt wird.
Nach einer Veranstaltung zum Internationalen Frauentag
im März dieses Jahres in Köln, auf der Eren
Keskin über Frauenrechte in der Türkei sprach,
griff die türkische Presse sie massiv an. Die Tageszeitung
»Hürriyet« warf ihr Verrat vor und
der Journalist Fatih Altayli drohte: »Ich denke,
wenn Eren Keskin zurückkommt, wird sie ihre sexuelle
Belästigung bekommen...Vielleicht ist es ja das,
was sie will«
Die nationale Anwaltskammer in Ankara hat gegen Frau
Keskin inzwischen ein einjähriges Berufsverbot
ausgesprochen. Eine Klage dagegen ist zwar möglich,
Erfolg hat sie aber nur, wenn sich eine internationale
Öffentlichkeit dazu verhält.
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