Die Türkei nähert sich Europa
- aber nicht den Menschenrechten.
Fragen an die türkisch-kurdische Anwältin Eren Keskin
Von Ulrike Schnellbach
Publik-Forum: Frau Keskin, wie schätzen Sie die
Reformen ein, die das türkische Parlament verabschiedet
hat: Abschaffung der Todesstrafe und die Zulassung der
kurdischen Sprache im Unterricht und in der Öffentlichkeit?
Eren Keskin: Natürlich sind die Beschlüsse
erst einmal positiv. Allerdings sehen wir vom türkischen
Menschenrechtsverein zu viele Hintertürchen. Die
Gefahr besteht, dass die Gesetze für die Europäische
Union verabschiedet wurden und sich in der Türkei
dennoch nicht viel ändert. So soll die Todesstrafe
im Kriegsfall immer noch gelten. Auch das Verbot der
kurdischen Sprache wird in der Praxis nicht viel verändern,
weil andere Gesetze die kurdische Sprache immer noch
verbieten - zum Beispiel das Wahlgesetz, das Parteigesetz
oder das Vereinsrecht.
Publik-Forum: Kürzlich war in einer deutschen
Zeitung zu lesen, dass ein Vater in der Türkei
vor Gericht stand, der seiner Tochter einen kurdischen
Vornamen gegeben hatte. Dann wurden Studenten verhaftet,
die friedlich für Unterricht in der kurdischen
Sprache demonstriert hatten. Sind das Ausnahmen, oder
sind derlei Anklagen auf der Tagesordnung?
Keskin: Diese Art Anklagen sind an der Tagesordnung.
Erst vor kurzem hat eine Gruppe von Studenten einen
Antrag auf kurdischen Unterricht gestellt. Sie wurden
aus der Universität gegworfen und in Untersuchungshaft
genommen: manche gefoltert und ins Gefängnis gebracht.
Es gab auch eine Elterninitiative, die beantragt hat,
dass ihre Kinder kurdischen Schulunterricht bekommen.
Gegen diese Eltern wurde ebenfalls der Prozess eröffnet.
Tatsächlich werden auch Eltern angeklagt, die ihren
Kindern kurdische Namen gegeben haben. Das alles zeigt,
dass die türkische Regierung sich nicht wirklich
bemüht, in der Kurdenfrage voranzukommen.
Publik-Forum: Wie könnten Deutschland und die
EU helfen, dass die Menschenrechte in der Türkei
geachtet werden?
Keskin: Die Türkei hat ein internationales Abkommen
unterzeichnet, das eine Bestimmung über den Rechtsstaat
enthält, aber die Türkei ist kein Rechtsstaat.
Die europäischen Staaten könnten darauf bestehen,
dass diese Bestimmung umgesetzt wird. Doch die EU-Staaten
verfolgen vor allem ihre eigenen Interessen. Dieselben
Länder, die von der Türkei Verbesserungen
der Menschenrechtssituation verlangen, machen gleichzeitig
Geschäfte mit der Türkei, indem sie ihr zum
Beispiel Waffen verkaufen. Diese wirtschaftlichen Beziehungen
sind den Staaten wichtiger als die Menschenrechte. Deshalb
glaube ich nicht, dass Veränderungen in der Türkei
von den europäischen Staaten ausgehen, höchstens
von den demokratischen Nichtregierungsorganisationen.
Puplik-Forum: Sie mussten sich jüngst wieder vor
Gericht verantworten, weil Sie mit anderen türkischen
Menschenrechtsaktivisten an einem Treffen mit der deutschen
Justizministerin Herta Däubler-Gmelin teilgenommen
haben. Ist das in der Türkei strafbar?
Keskin: Die deutsche Justizministerin traf sich in
der Türkei mit Nichtregierungsorganisationen. Ich
habe ihr die politische Situation in der Türkei
geschildert und gesagt, dass hier keine zivile Politik
gemacht werden kann, weil das Militär eine beherrschende
Stellung hat. Ich habe vor allem über die Menschenrechtsorganisation
gesprochen. Obwohl bei dem Treffen keine Presse zugelassen
war, wurde in einer Zeitung darüber berichtet mit
der Schlagzeile: "Türkisches Militär
gegenüber Deutschland angeklagt." Ich weiß
nicht, wie sie zu der Nachricht kamen, aber auf Grund
dieses Artikels wurde gegen mich ein Prozess eröffnet,
und ich bin kurz davor, verurteilt zu werden.
Publik-Forum: Das ist nicht die erste Anklage gegen
Sie.
Keskin: Ich bin unzählige Male in Untersuchungshaft
gewesen. 1955 war ich sechs Monate im Gefängnis.
Die Anklage damals lautete auf sepratistische Propaganda,
denn ich hätte das Wort "Kurdistan" benutzt.
Derzeit laufen gegen mich mehr als hundert Prozesse,
und ich rechne jderzeit damit, ins Gefängnis zu
müssen.
Publik-Forum: Haben Sie Informationen, dass aus Deutschland
abgeschobene kurdische Flüchtlinge in der Türkei
gefoltert werden?
Keskin: Ich kann nicht behaupten, dass alle aus Deutschland
Abgeschobenen hier gefoltert werden. Aber es gibt welche,
die verhaftet und gefoltert wurden. Wenn eine Person
in der Türkei gesucht wird oder auch nur ein Familienmitglied
- besonders, wenn es sich um jemanden handelt, der sich
für die Kurden eingesetzt hat -, dann ist das allein
ein Grund, ihn in Untersuchungshaft zu nehmen und zu
foltern.
Publik-Forum: Sie verteidigen seit Jahren Kurden, die
wegen "Separatismus" angeklagt sind. Wie viele
Prozesse haben Sie gewonnen?
Keskin: Die Prozesse, die ich führe, sind politische
Prozesse. Natürlich ist die Zahl der verlorenen
Prozesse viel höher als die der gewonnenen. Denn
schon sich zu äußern kann eine Straftat sein,
wenn man in Kurdenangelegenheiten eine andere Meinung
vertritt als die Regierung. Und sich zu organisieren
ist auch eine Straftat.
Publik-Forum: Die kurdische Arbeiterpartei PKK hat
ihren bewaffneten Kampf für beendet erklärt
und sich zu einer politischen Partei umformiert. Wie
ernst ist diese Wandlung?
Keskin: Die PKK hat schon lange den bewaffneten Kampf
aufgegeben, das sehe ich als großen Gewinn. Denn
das kurdische Volk ist vom Krieg erschöpft, auch
das türkische Volk hat darunter sehr gelitten.
Die Türkei hat viele Soldaten, die Kurden haben
viele Familienmitglieder verloren, sei es durch den
Krieg oder durch Morde.. Der Krieg war ein Teufelskreis,
und beide Völker brauchen den Frieden sehr notwendig.
Publik-Forum: Wie reagiert der Staat auf das Friedensangebot
der PKK?
Keskin: Wir haben bis jetzt keine positive Reaktion
des Staates auf den Waffenstillstand gesehen. Die Haltung
der Regierung in der Kurdenpolitik ist genau wie zuvor.
Publik-Forum: Sie vertreten Frauen, die in Untersuchungshaft
sexuell belästigt und vergewaltigt wurden. Wie
sind da Ihre Erfolge?
Keskin: In der Türkei wird in Verhören systematisch
gefoltert. Sexuelle Folter öffentlich zu machen
ist am schwierigsten. Den die Frauen haben große
Schwierigkeiten, darüber zu berichten. Sie haben
Angst, sie schämen sich. Zudem ist es sehr schwer,
sexuelle Folter zu beweisen. Wenn die vergewaltigte
Frau Jungfrau war, muss sie innerhalb von zehn Tagen
nach der Vergewaltigung ein ärztliches Attest vorlegen.
Wenn sie keine Jungfrau war, braucht sie das Attest
innerhalb von 48 Stunden. Aber genau so lange werden
die Frauen in Untersuchungshaft gehalten. Wenn die Frist
verstrichen ist, gibt es nur noch die Möglichkeit
eine psychologischen Gutachtens, und es gibt in der
Türkei nur wenige Stellen, die dafür qualifiziert
sind. Dazu kommt, dass jedes neutrale ärztliche
Attest von einem gerichtsmedizinischen Institut, also
einer staatlichen Stelle, bestätigt werden muss.
Deshalb ist dies ein sehr mühseliger und schwieriger
Weg. Trotzdem wird er sehr oft beschritten. Seit fünf
Jahren arbeiten wir in einem Projekt für vergewaltigte
Frauen, und 156 Frauen haben sich bislang an uns gewandt.
14 Prozesse laufen derzeit in der Türkei, 27 Akten
liegen beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof.
Dort haben wir einen Prozess gewonnen, in der Türkei
haben wir noch keinen gewonnen. Aber es geht uns auch
darum, dass die Frauen das Bewusstsein für ihr
Recht entwickeln. Da sind wir einen großen Schritt
vorangekommen.
Publik-Forum: Sind Sie selbst in der Haft vergewaltigt
oder gefoltert worden?
Keskin: Ich habe keine Vergewaltigung erlebt, aber
sexuelle Belästigungen und verbale Attacken. Ich
bin nicht systematisch gefoltert worden, aber bedroht.
Ich war psychologischer Gewalt ausgesetzt.
Publik-Forum: Denken Sie manchmal daran aufzugeben?
Keskin: Ich liebe meine Arbeit für die Menschenrechte,
sie ist mein Leben. Wenn man sich in der Türkei
so eine Arbeit vornimmt, dann nimmt man die Gefahren
und Bedrohungen in Kauf. Am Anfang hatte ich Angst,
jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Ich denke nicht
daran aufzuhören.
Publik-Forum: Welche Auswirkungen hat die derzeitige
Regierungskrise? Setzen Sie Hoffnungen in die Neuwahlen
im November?
Keskin: Nein. Solange das Militär so viel Macht
in der Politik hat, wird die Regierungskrise weitergehen.
Und so lange glaube ich auch nicht, dass irgendeine
Wahl irgendeine Veränderung bringen wird..
Publik-Forum: Wie kann sich dann überhaupt etwas
verändern?
Keskin: Das hängt sehr stark von der inneren Dynamik
ab. Wenn die Forderung aus der Bevölkerung nach
Demokratisierung und nach ziviler Regierung stärker
wird, dann gibt es sicherlich eine Veränderung.
Publik-Forum: Ist ein Interview wie dieses, in dem
Sie den türkischen Staat deutlich kritisieren,
für Sie gefährlich?
Keskin: Natürlich. In der Türkei ist jeder,
der sich systemkritisch äußert, gefährdet.
Übersetzerin: Gülsen Özkan
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