Stichworte:
Sippenhaft
Folter
Dass auch Geschwister landesweit gesuchter Aktivisten in der Türkei in deren
Verfolgung generell einbezogen werden, hat das OVG Nordrhein-Westfalen im
Urteil vom 27.06.2002 - 8 A 4782/99.A - auf Seite 86 mit Nachweisen dargestellt.
Weiter heißt es in dem Urteil auf Seite 79:
"In der Türkei ist es Bestandteil polizeilicher Ermittlungstaktik, dass nahe
Angehörige bestimmter politischer Verfolgter von den Sicherheitskräften in der
Wohnung überfallen, nach Durchsuchung - häufig auch des Arbeitsplatzes - zur
Wache genommen und unter Folter verhört werden, obwohl sie selbst nicht im
Verdacht stehen, in eigener Person separatistische Strömungen zu unterstützen
oder sich sonst staatsfeindlich zu verhalten. ... Mit diesem Vorgehen verfolgen
die staatlichen Sicherheitskräfte mehrere Ziele: Zum Einen soll erreicht werden,
dass die Familie dem Druck nicht länger standhält und dafür sorgt, dass die
gesuchte Person sich stellt, oder dass diese sich selbst stellt, weil sie die
Misshandlungen ihrer Angehörigen nicht länger erträgt. Zum Zweiten wird das
Ziel verfolgt, Informationen sowohl über die Straftat und die gesuchte Person
(Aufenthaltsort, Tätigkeiten, Kontakte) als auch über die Unterstützung des
Gesuchten durch die Familienangehörigen zu erhalten. Drittens schließlich
sollen die Familienangehörigen so eingeschüchtert werden, dass sie sich von der
kurdischen Opposition fernhalten; ..."
Diese Vorgehensweise (die Vergewaltigung weiblicher Angehöriger - d.A.in) hat das
Oberverwaltungsgericht (OVG) des Saarlandes in seinem Grundsatzurteil zur Sippenhaft
vom 02.10.1996 - 9 R 87/93 - auf den Seiten 9 - 17 beschrieben:
"Speziell zum Vorgehen der Sicherheitskräfte gegenüber kurdischen Frauen ergibt
sich aus den Erkenntnisquellen, dass in den Augen der Sicherheitskräfte jede Frau,
deren Mann, Bruder oder Vater kein Dorfschützer sei und nicht auf Seiten des Staates
stehe, unabhängig davon, ob sie schreiben und lesen könne oder der türkischen Sprache
mächtig sei, als "Separatistin", "Mitglied der Organisation", "Sympathisantin" oder
"Helferin der Guerilla" gelte, die ständig verdächtig und unter Druck gesetzt werde.
Die Sicherheitskräfte träfen bei Durchsuchungen in den Dörfern meistens nur die Frauen
an, da die Männer entweder weit weg bei der Arbeit oder bei der PKK-Guerilla seien.
Diese Frauen werden dadurch viel schneller zu Zielscheiben der türkischen Militärs
und Polizei. Der Angriff auf die "Frau des Gegners" bedeute in dieser Region auch die
Erniedrigung des gegnerischen Mannes, dessen Ehre zutiefst verletzt werden solle."
Die von den Klägern zu 1. und 2. erlittenen Maßnahmen, die sie aus der
übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzten, knüpften an die
unverfügbaren Merkmale "Bruder" bzw. "Ehefrau" an. Das Ausbleiben gesetzlich
vorgesehener strafrechtlicher Konsequenzen gibt Anhaltspunkte dafür, dass es
sich hierbei um Maßnahmen politischer Verfolgung - wenngleich unter dem Deckmantel
angeblicher "Terrrorismusbekämpfung" bzw. "als ordnungsrechtliche Maßnahmen
gerechtfertigt" - handelt. Die genannten Maßnahmen haben nach ihrer objektiven
Gerichtetheit jenseits der Terrorismusbekämpfung auch zum Ziel, die im Einzelfall
festgestellte oder generell bei allen Kurden in Süsostanatolien vermutete, mit dem
Terrorismus/Separatismus sympathisierende Gesinnung durch Anwendung
menschenrechtswidriger Gewalt und fortwährene Schikanen zu bekämpfen.
Vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des 2. Senats vom 22.01.1999 - 2 BvR 86/97 - ,
InfAuslR 1999, 273 (277)
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